Die Geschichte einer
erfolgreichen PKW-Baureihe
Vorgeschichte
Daimler-Benz war seit der Fusion im Personenwagenbereich ein Luxus-,
zumindest Oberklassehersteller. Der technische Vorsprung, besonders in
den 1930er Jahren führte naturgemäß zu hohen Preisen und einer
entsprechend illustren Kundenklientel die sich aus Päpsten, Königen und
anderen Herrschern zusammensetzte. Nach der Tragödie des zweiten
Weltkriegs stand die Produktionswiederaufnahme unter dem Vorzeichen
Robustheit und Nutzwert. Sehr bald jedoch erlaubten Wirtschaftswunder
und Export eine Rückkehr zu mercedesgemäßen Attributen Fortschritt,
Luxus, Größe, ablesbar am Anwachsen der unterhalb der S-Klassen (W111, 108/109, 116) angesiedelten
"Mittelklassemodelle" (W110,114/115,123) zum Oberklasseformat.
Bereits in den 1950er Jahren waren Überlegungen für eine Besetzung der
"Nische" zwischen Ponton-Klasse und der großen Kleinwagenklasse
der Wettbewerber angestellt worden, die gekrönt worden waren vom Prototypen
W122. Die sich ankündigende entwicklungsintensive Heckflossenzeit erlaubte
keine Projektfortführung. Das berühmte Frontantriebs-Denkmodell W118,
luftig-leicht unter dem Daimler-Vorausentwicklungschef Karl Kraus
entstanden, wurde zusammen mit seinem Schöpfer mitsamt der ganzen
Auto-Union 1964 an Volkswagen verkauft wo es vier Jahre später als Audi 100
debütieren sollte.
Die Ölkrise Mitte der siebziger Jahre bewirkte zwar später
mit dem Energiekonzept '81 auch beim Luxuswagenhersteller ein erstes Umdenken in Richtung
mehr Ökonomie, aber erst und besonders die
Flottenverbrauchsgesetzgebung der US-Regierung 1976
erforderte die Entwicklung neuer, strömungsgünstiger
Fahrzeuge, die auch mit Benzinmotoren die Verbrauchsvorgaben
einzuhalten in der Lage waren.
In den USA forderten Frauen von
Mercedes-Fahrern gleiche Sicherheit für ihre Zweitwagen ein, also einen
kleinen Mercedes "für den Schulweg". Massenhersteller waren
dabei, ihre Produktpalette nach oben zu erweitern; es bestand die Gefahr,
daß anspruchsvolle Kunden ihrer Automarke treu bleiben könnten und damit
nicht mehr automatisch zu Mercedes-Käufern werden würden. Der
Daimler-Vorstand zeigte jedoch zunächst wenig Neigung, sich an den harten
Verkaufsschlachten der Mittelklasse zu beteiligen.
Heinz C. Hoppe, damals Vertriebsvorstand,
ließ im Sommer 1975 eine Dokumentation unter dem Titel
"Aktuelle Situation im Pkw-Bereich, Probleme der künftigen
Mengenpolitik und Programmgestaltung aus Sicht des Vertriebs"
erstellen. Das Fazit dieses berühmtgewordenen "grünen Buches"
lautete knapp zusammengefasst: Daimler-Benz kann seine Erfolgsgeschichte auf
dem Pkw-Sektor nur dann fortsetzen, wenn eine Produkt-Ergänzung nach unten
rechtzeitig erfolgt.
Die Entwicklung
Im Herbst 1976 startete mit der Erstellung des
Lastenheftes die Vorentwicklung einer neuen, kompakten
Mercedes-Baureihe. Sie sollte unter Beibehaltung der
typischen Mercedes-Charakteristika wie Verarbeitungsqualität,
höchstmögliche Sicherheit und ausgereifte Technik zudem
deutlich verringerten Kraftstoffverbrauch und eine bessere
Wartungs- und Reparaturfreundlichkeit bieten. Die bisher
zuweilen ausladenden Gesamtabmessungen sollten einem neuen, günstigen
Innenraum/Abmessungsverhältnis weichen. Einsparungen von 30cm (Länge),
10cm (Breite) und 280kg (Gewicht) gegenüber der gerade gestarteten
Mittelklasse (W123) wurden angestrebt.
Eine neue, jüngere Käuferschicht
sollte angesprochen werden. Überlegungen für
den Einsatz des Frontantriebs wurden verworfen, da es damals
nicht möglich erschien, ohne Trennung von Antrieb und
Lenkung bei mittelschweren Fahrzeugen optimale
Fahreigenschaften abstimmen zu können.
Zwar waren im Vorstand Anfang 1978 noch
Überlegungen über eine Zusammenarbeit mit anderen Herstellern angestellt
worden, aber seit Oktober 1978 war im ganzen Vorstand Konsens über die
Notwendigkeit dieser neuen kompakten Baureihe hergestellt. Seit 1979
schließlich gilt auch offiziell der "Kleine" als Eckpfeiler des
zukünftigen Pkw-Programms.
Im Sommer 1978 - das Grundkonzept der Baureihe 201
stand fest - begann man mit einer umfangreichen Fahrwerks-Grundlagenforschung
und -erprobung. Nicht weniger als acht Hinterachs-Grundkonzeptionen
in 77 Varianten wurden untersucht, bei dem man sich eines
modular aufgebauten karosserielosen Versuchsträgers bedienen
konnte.
Fünf einzeln aufgehängte Stablenker erwiesen sich auch
im Hinblick auf Einbauraumbedarf und Gewicht als das Optimum
und so konnte die vom Daimler-Marketing propagierte
Raumlenker-Hinterachse ihren Siegeszug antreten; sie findet
noch heute in jedem Standardkonzept von der C-Klasse bis zum
SL ihre weiter verfeinerte Verwendung.
Bei der Implementierung der typischen Mercedes-Sicherheit konnte auch auf Erfahrungen aus den
Experimentier-Sicherheits-Fahrzeugen zurückgegriffen
werden.
Die Raumlenker-Hinterachse
Zum Zustandekommen des Namens "190" konnte noch nichts näheres in
Erfahrung gebracht werden; die seinerzeitige Produktpalette umfasste
bekanntlich die Reihe 200D bis 280E sowie 280S bis 500SEL nebst
Sonderbaureihen. Obwohl von Anfang an bei der Motorisierung an den Griff ins
Motorenregal der Mittelklasse (M102) gedacht war ist nicht auszuschließen dass zur
Legitimierung der zu entwickelnden Typenreihe 190 auch Motoren mit 1,9l
Hubraum angedacht oder erprobt wurden. Andererseits hatte bereits zu
diesem Zeitpunkt die "Fehlbenennung" von Fahrzeugen eine gewisse
Tradition: gedacht sei nur an den frühen 190D der
Heckflossenzeit Anfang der sechziger Jahre mit seinem 2,0l-Aggregat..
Der 190D mit 2.0l Hubraum...
Im Herbst 1981 gingen die ersten von Hand
zusammengebauten Prototypen in den getarnten Straßenversuch.
Die erste große Blütezeit der Erlkönigjäger begann und
schon damals waren nicht-originale Scheinwerfer und Rückleuchten
eine der wichtigsten Tarnmaßnahmen. Die -besonders auch
amerikanische- Öffentlichkeit nahm sehr interessiert Anteil
an der "Geburt" des "Baby-Benz", die mit
der Vorstellung bei den Niederlassungen und Vertretungen am 9.
Dezember 1982 vollendet war.
Durch die bereits im Februar 1982 als
Vorserie und schließlich im September in Serie begonnene
Produktion von zunächst rund 100 Wagen am Tag konnten die
sonst bei Mercedes-Neuheiten üblichen Lieferfristen auf ein
erträgliches Maß gedrückt werden; gleichzeitig erwiesen
sich die früher so renditeträchtigen Vertrags-Spekulationen
erstmals als nicht zielführend.
Die Vorstellung
Die sehr hohe Erwartungshaltung der Öffentlichkeit
- schließlich begab sich der Luxuswagenhersteller in ein für
ihn höchst fremdes Marktsegment - wurde zunächst fast enttäuscht:
Kritik fand das schmucklose wenngleich moderne Äußere ohne
Chromzierrat (man vergleiche die gleichzeitig verkauften
Baureihen 123, 126, 107!) mit dem (heute nicht wegzudenkenden)
hohen Heckabschluß, das vergleichsweise bescheidene
Raumangebot und - die Preise:
die zunächst ausschließlich lieferbaren Vierzylindermodelle
190 (Vergaser mit 90PS) und 190 E (122PS) standen mit 25.538
bzw. 27.742 DM in der ersten Preisliste. Dabei mussten heute
selbstverständlich erscheinende Ausstattungsdetails zusätzlich
geordert werden: Außenspiegel rechts (153,-), Drehzahlmesser
(226,-), Entstörung (85,-), Fondbeleuchtung (85,-),
Handschuhkastenschloß (29,-), Fondkopfstützen (192,-),
Servolenkung (819,-), wärmedämmendes Glas (333,-) oder
Zentralverriegelung (412,-). Ein Fünfganggetriebe ist erst
seit September 1983 erhältlich! Einzig die vom Start weg für
alle Modelle zumindest verfügbaren (aufpreisigen)
Sonderausstattungen ABS, Fahrerairbag, Klimaanlage, Tempomat,
Sitzheizung oder Standheizung verrieten Oberklasseniveau,
ebenso die serienmäßigen Scheibenbremsen rundum oder die getrennt
regulierbare Heizung.
Der erste Prsopekt (Druckdatum Okt 82)
Die noch Anfang 1983 zu beobachtende
leichte Kaufzurückhaltung erforderte für den erfolgsverwöhnten
ältesten Automobilhersteller der Welt erstmals die
Notwendigkeit, Autos zu verkaufen statt sie nur zu "verteilen".
Durch den sukzessiven Ausbau der Modellpalette (bereits 1983
folgten der 190 Diesel und das Sportmodell 190E 2.3-16)
erfreute sich der neue, kompakte Mercedes aber schnell einer
großen Beliebtheit, sodaß auch für den "Kleinen" (typabhängig)
Lieferfristen von einigen Monaten üblich wurden, zumal
Produktionsflexibilität damals nicht oberste Priorität genoß.
Im ersten vollen Produktionsjahr wurde
die Marke 100.000, im November 1985 die halbe und 1988 die
ganze Million produzierter 190er erreicht.